Karin und Beat Stalder, Schlosswil, BE
«Wir begegnen uns auf Augenhöhe»
Franziska Schawalder – Die Stiftung Landwirtschaft und Behinderte LuB feiert dieses Jahr ihr 30-Jahr-Jubiläum. Zu den rund 150 Betreuerfamilien zählen auch einige Mitglieder von Mutterkuh Schweiz. So zum Beispiel Karin und Beat Stalder aus Schlosswil / BE. Sie können auf die wertvolle Mitarbeit von Hofmitarbeiter Patrick Berger zählen. Zusammen mit LuB-Beraterin Monika Lauener habe ich die drei besucht, um mehr über ihren Alltag sowie die Chancen und Herausforderungen ihrer Zusammenarbeit zu erfahren.
«Patrick ist schon seit Tagen aufgeregt», erzählt mir Monika Lauener auf der gemeinsamen Hinfahrt. «Er freut sich auf die Journalistin, die über ihn berichten und Fotos machen wird, aber die Situation ist unbekannt und neu für ihn.» Auf dem Hof werden wir freundlich empfangen. Patricks anfängliche Nervosität legt sich schnell. «Heute Morgen hatten wir deswegen etwas ein "Gstürm" Chefin, gell», wendet er sich an Karin Stalder. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Nach bald zehn Jahren kennen sie und ihr Mann ihren Mitarbeiter mit Beeinträchtigung – so die offizielle Bezeichnung – sehr gut und wissen genau, wie sie dieses «Gstürm» einordnen müssen. Patrick hat eine kognitive Beeinträchtigung. Dies bringt beispielsweise mit sich, dass er mit Veränderungen, vor allem unangekündigten, nicht gut umgehen kann. Er liebt einen klar strukturierten Arbeitsalltag. So müssen gelegentliche Einsätze bei Nachbarn frühzeitig angekündigt werden und schnell, schnell vor der Stallarbeit noch die Blumen giessen geht überhaupt nicht. Erst der Stall und dann die Blumen. Der gebürtige Fricktaler braucht genug Zeit, um sich auf Planänderungen einzustellen. Wer diesen Bedürfnissen mit Respekt begegnet, profitiert von seinen Fähigkeiten, seiner Zuverlässigkeit und Motivation. «Patrick hat noch kein einziges Mal verschlafen, seit er bei uns ist. Auf ihn ist Verlass, er sieht die Arbeit und hat sein Leben super im Griff», sagt «Chef» Beat Stalder. «Und im Haushalt ist er ein Perfektionist. Er hat immer eine top Ordnung in seinen zwei privaten Wohnräumen», ergänzt Karin. Schnell spürt man, wie vertraut und respektvoll die drei
miteinander umgehen. «Wir begegnen uns auf Augenhöhe. Die Zusammenarbeit macht Freude und seine Sorglosigkeit und Zufriedenheit tun mir gut», erklärt Beat. Trotz allem braucht die Betreuungsaufgabe viel Energie. Man werde gespiegelt, was nicht immer leicht anzunehmen sei. Aber wenn man sich darauf einlasse, betont der 43-Jährige, sei es eine grosse Chance. Auch zu Karin hat Patrick ein sehr gutes Verhältnis. Grad vor kurzem haben sie gemeinsam das Jahr 2025 geplant. Hier gilt es sämtliche Termine und Bedürfnisse seitens der Familie und des Hofmitarbeiters unter einen Hut bzw. auf einen Plan zu bringen. Gemeinsam studieren sie das Angebot der LuB mit Kursen, begleiteten Wochenenden und Ferien sowie das Programm der Plus-Sport-Lager. Patrick liebt seine Arbeit, aber genau so mag er auch das Zusammensein mit Gleichgesinnten. Monika erzählt denn auch, dass er innerhalb der LuB-Gemeinschaft bekannt und geschätzt sei. «Auch bei uns im Dorf ist er beliebt und bestens integriert», sagt Karin. Kein Wunder – er ist kommunikativ, freundlich und stets gut gelaunt.
LuB bietet verschiedene Ausbildungen an
Beraterin Monika Lauener erklärt bei einer Tasse Kaffee, dass es natürlich auf einigen anderen Betrieben grössere Herausforderungen gibt als bei Stalders. Sie betreut in der Deutschschweiz zusammen mit einer weiteren Beraterin und zwei Beratern aktuell rund 90 Frauen und Männer mit Beeinträchtigungen. Ein Grossteil davon sind wie Patrick Hofmitarbeitende
in einer Dauerplatzierung, das heisst einem unbefristeten Arbeits- und Betreuungsvertrag, der von beiden Parteien mit einer Frist von drei Monaten gekündigt werden kann. Die restlichen Mitarbeitenden sind in Ausbildung. Es gibt verschiedene Möglichkeiten – von der IV-Anlehre bis hin zum EFZ-Abschluss. Wer wie Patrick Hofmitarbeiter werden möchte, absolviert den praktischen Teil der zweijährigen Ausbildung auf einem Landwirtschafts- oder Pferdebetrieb. Für den schulischen Teil besuchen die angehenden Hofmitarbeitenden einmal wöchentlich den Unterricht am Strickhof in Winterthur-Wülflingen. Dauerplatzierungen werden im Normalfall mit einer IV-Rente und Ergänzungsleistungen finanziert. Entsprechend der Arbeitsleistung wird auch ein Lohn ausgezahlt.
Enges Betreuungsverhältnis
Monika betreut und berät aber nicht nur die Mitarbeitenden, sie ist auch Beraterin und Ansprechperson für die betreuenden Bauernfamilien. Wann immer ein Problem auftaucht, steht die Beratungsperson zur Seite bzw. sucht gemeinsam mit den zwei Parteien eine Lösung. Die 47-Jährige liebt ihren Beruf, der viele schöne Begegnungen und immer wieder neue Herausforderungen mit sich bringt. Bei Familie Stalder und Patrick findet alle drei Monate
ein Gespräch statt. Bei Betreuungsverhältnissen, die nicht so rund laufen, werden die Beteiligten enger begleitet. Auch Karin und Beat haben schon negative Erfahrungen gemacht. So war der erste von ihren bisher drei Hofmitarbeitern eine äusserst schwierige Persönlichkeit und sie waren sehr froh, dass sie sich jederzeit an die LuB wenden konnten. Diese organisiert auch Weiterbildungen für die Betreuerfamilien. Einmal pro Jahr findet zudem eine LuB-Weiterbildung auf dem Hof einer Betreuerfamilie statt. 2021 waren Stalders und Patrick die Gastgeber-Familie. Obwohl es an diesem Tag sehr nass und kalt war, reisten rund 30 Interessierte nach Schlosswil. Die Veranstaltung war ein voller Erfolg und ist allen noch in bester Erinnerung. Als Highlight des aktuellen Jahres bezeichnen alle anwesenden Personen das LuB-Jubiläumsfest, das Ende August stattgefunden hat.
Mutterkühe und Milchvieh passen gut zusammen
Nach dem zweiten Kaffee wird Patrick langsam ungeduldig und möchte mir endlich die Mutterkuhherde zeigen. Dazu zählen 14 Mutterkühe – der grösste Teil sind Angus, aber es ist auch eine Simmentaler, eine Limousin und eine F1-Kuh darunter – mit ihren Kälbern und ein Angus-Stier. Beat und Karin sind beide auf einem Milchviehbetrieb gross geworden. 2008 haben sie den Betrieb von Karins Vater übernommen oder wie sie sagt: «Beat hat sich "igwibet".» 2009 bot ihnen der Nachbar die Pacht seines Mutterkuhbetriebes an. Zu Beginn noch etwas skeptisch, ist Beat heute glücklich über den damals unerwarteten vierbeinigen Zuwachs: «Diese beiden Betriebsformen passen sehr gut zusammen. Während wir die Mutterkühe mit Gras und Heu extensiv halten, sind wir bei den 24 Milchkühen intensiv unterwegs.» Das Fleisch verkaufen sie selbst als Mischpakete oder über ihr «Hoflädeli». Insgesamt bewirtschaften sie 24,5 Hektaren Land. Davon sind 5 Hektaren Acker (Futtermais und Gerste), 2 Hektaren Natur- und Ökowiese, 1,5 Hektaren Wald, der Rest ist Wiesland (5 Hektaren Standweide). Damit aber nicht genug: Alle sechs Wochen erhalten sie neue Zuchtschweine, deren Ferkel sie mit rund 25 Kilogramm in einen Mastbetrieb weitergeben. Nicht zu vergessen die
Haustiere – Katzen, Hund, Pferde, Hühner und Zwergziegen. Um diese Tiere kümmern sich vor allem Karin und die beiden Töchter Fabienne und Sarina. Die 17jährige Fabienne ist im nahen Welschland in Ausbildung zur Milchtechnologin und tritt somit in die Fussstapfen des Vaters, der zwei halbe Tage pro Woche als Milchtechnologe auswärts arbeitet. Die 15jährige Sarina startet nächstes Jahr eine Lehre als Fachangestellte Gesundheit und tritt somit in die mütterlichen Fussstapfen. Die 46-Jährige arbeitet nämlich nebst der Arbeit auf dem Hof noch 40 Prozent als diplomierte Pflegefachfrau in der Spitex. Das auswärts Arbeiten bezeichnen beide als Hobby und sie betonen, dass es ohne die Unterstützung von Patrick und Karins Vater nicht möglich wäre.
Kühe helfen Patrik herunterzufahren
Kühe spielen in Patricks Leben seit jeher eine wichtige Rolle. Sein Vater betrieb im Fricktal einen Milchviehbetrieb und stellte nach dem frühen Tod seiner Frau auf Mutterkühe um. Zwischenzeitlich hat er den Hof verpachtet. Das Putzen und Schären der Kühe helfen Patrick in stressigen Momenten herunterzufahren. Sein Vater ist stolz auf ihn, weil er seinen Traum, in der Landwirtschaft zu arbeiten, verwirklicht hat und jetzt erst noch mit Milch- und Mutterkühen arbeitet. Der Fricktaler hat seine Lehre als Hofmitarbeiter in Lengwil / TG absolviert. Dann war er bei einer Familie im Luzerner Hinterland, dazwischen mal einen Alpsommer in Jaun / FR und anschliessend rund 5 Jahre auf dem Randen im Kanton Schaffhausen. In Schlosswil – am Tor zum Emmental – scheint er angekommen zu sein. So feiert er Ende November 2025 nicht nur seinen 40. Geburtstag, sondern auch sein 10-Jahr-Jubiläum. Familie Stalder unterstützt ihn bei den Festivitäten. Wer ganz sicher mit ihm feiern wird, ist sein langjähriger Freund Noldi. Der gebürtige Muotathaler arbeitet als Hofmitarbeiter bei Beats Schwester in Eriswil / BE, die den elterlichen Hof, zu
sammen mit ihrem ebenfalls «igwibeten» Mann übernommen hat. Während sich viele Leute nicht vorstellen können, ihr Zuhause mit einer ausserfamiliären Person zu teilen, ist das für Karin und Beat ganz normal. Seine Mutter bildete mehrere Lehrtöchter aus und ihr Vater insgesamt 25 Lehrlinge. Später betreuten ihre Eltern Pflegekinder und auffällige Jugendliche. Das Ehepaar Stalder musste deshalb nicht allzu lange überlegen, als sie von der LuB angefragt wurden, ob sie sich vorstellen könnten, einen Hofmitarbeitenden in ihrer Familie willkommen zu heissen. Der Einstieg war wie bereits erwähnt happig, aber sie liessen sich nicht entmutigen und sind dankbar, dass sie mit Patrick so viel Glück haben. Er war es, der damals bei der LuB den Wunsch geäussert hat, bei Familie Stalder arbeiten zu dürfen. Nach der obligaten Probezeit fragten die damals 5- und 7-jährigen Töchter ihre Eltern: «Wann kommt Patrick wieder?» Bis heute verstehen sich die drei sehr gut. «Und trotzdem ist es wichtig, dass wir regelmässig eine Pause voneinander haben, durchschnaufen können und etwas Zeit für die Familie haben», weiss Karin aus Erfahrung.
Nach einem feinen Mittagessen zeigt mir Patrick noch die Milchkühe, seine Fahrkünste auf dem kleinen Traktor und ich erlebe ihn beim Umzäunen einer Rinderweide. Tief beeindruckt und dankbar für diese wunderschöne Begegnung trete ich die Heimreise an. Nichts scheint meine gute Laune trüben zu können. Nicht mal die Durchsage am Bahnhof Bern, dass wegen einer Stellwerkstörung alles stillsteht. Patricks Sorglosigkeit hat scheinbar auch bei mir Spuren hinterlassen.
Stiftung Landwirtschaft und Behinderte (LuB)
Die LuB setzt sich dafür ein, dass Personen mit Beeinträchtigungen bei Bauernfamilien leben und auf deren landwirtschaftlichen Betrieben mitarbeiten können und dafür eine angemessene Entschädigung erhalten. Im Gegenzug werden die Betreuerfamilien für die Begleitung und Betreuung sowie für die Unterkunft und Verpflegung entschädigt und haben ein zusätzliches Standbein. Dabei werden sie von ausgebildeten Fachpersonen begleitet und unterstützt.
Die Stiftung LuB wurde 1993 gegründet. Träger sind der Schweizer Bauernverband und insieme Schweiz. Das LuB-Team besteht aus 8 Mitarbeitenden. Zurzeit begleitet die LuB rund 90 Mitarbeitende oder Lernende mit Beeinträchtigung in 15 Kantonen. Nähere Informationen erhalten Sie unter www.lub.ch.
Vielfältige Anforderungen an die Bauernfamilien
Die LuB ist nicht aktiv auf der Suche nach neuen Betreuerfamilien, aber sie freut sich immer, wenn sich ernsthaft interessierte Bauernfamilien bei ihr melden. Wer sich vom unten aufgeführten Anforderungskatalog angesprochen fühlt und gerne mehr über diese schöne Aufgabe erfahren möchte, darf sich gerne unter der Telefonnummer 056 462 51 70 oder per E-Mail info@lub.ch bei der LuB melden.
- Ganz wichtig: Sie haben Zeit für diese anspruchsvolle Aufgabe!
- Sie sind ernsthaft motiviert, eine Betreuungs- und Beschäftigungsaufgabe zu übernehmen sowie mit der LuB zusammenzuarbeiten.
- Sie sind eine offene Persönlichkeit und können gut auf Menschen zugehen.
- Sie begegnen beeinträchtigen Personen mit Wertschätzung, auf Augenhöhe und mit einem Vertrauensvorschuss.
- Sie haben Geduld und Verständnis, auch wenn es die eine oder andere Wiederholung braucht.
- Sie können gut kommunizieren, sei es im zwischenmenschlichen Bereich oder beim Erklären einer Arbeitsaufgabe.
- Sie bleiben positiv, auch wenn nur kleine Fortschritte zu sehen sind.
- Sie verfügen über mindestens ein freundliches Zimmer in ihrem Zuhause.
- Sie erfüllen die Bedingungen zur Arbeitssicherheit AgriTOP.
- Sie sind bereit, an drei Tagen pro Jahr eine Weiterbildung zu betreuungsrelevanten Themen zu besuchen.