Familie Bonifazi, Brienz-Brinzauls, GR
Von der Sehnsucht nach dem alten Leben
Franziska Schawalder – Für einmal stehen nicht die Kühe im Mittelpunkt. Obwohl auch sie in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielen. Aber ihnen geht es gut auf der temporären Weide. Im Gegensatz zur Besitzerfamilie Bonifazi, die das Heimweh nach ihrem Zuhause plagt. Sie sind zwar unglaublich dankbar für all die Hilfe, die ihnen zuteilwird. Gleichzeitig wissen sie aber nicht, wie und wo ihr eigenes Leben weitergehen wird.
Georgin Bonifazi hat es sich auf der Sitzbank neben dem Hofladen des Plantahofs in Landquart gemütlich gemacht. «Der Eingang zu unserer Wohnung ist nicht so einfach zu finden», sagt er mir am Telefon. Am besten würden wir uns beim Hofladen treffen. Mein Zug hat an diesem Tag Mitte April leicht Verspätung und so packe ich die schnellen Beine aus. Zugegeben bin ich etwas nervös. Für mich ist dieses «Zu Besuch» eine Herzensangelegenheit. Seit ich Georgin und seine Familie das erste Mal – wie viele andere auch – am Fernsehen gesehen habe, hat mich ihre Geschichte nicht mehr losgelassen. Dieser grosse starke Mann, dessen warme Worte und traurige Augen am Bildschirm wohl niemanden kalt gelassen haben. Sofort habe ich angefangen über Brienz bzw. Brinzauls – wie es auf Rätoromanisch heisst – zu recherchieren. Zu jener Zeit im Frühjahr 2023, als das Dorf erstmals evakuiert wurde und im Juni der erwartete Bergrutsch Richtung Dorf donnerte, war es in den Medien omnipräsent. Nicht, dass ich noch nie in der Nähe von Brienz / GR war, aber von der schwierigen Situation dieses Dorfes, das auf einer Sonnenterrasse an der Verbindungsstrasse von Lenzerheide nach Davos auf einer Höhe von rund 1150 Metern liegt, hatte ich keine Ahnung. Dabei entdeckte ich erst vor kurzem zufällig in der Mediathek von SRF einen Beitrag aus dem Jahr 1975, der über den Hangrutsch oberhalb des Dorfes und die Talrutschung berichtete. Neu ist das Thema also nicht. Aber es hat im wahrsten Sinne des Wortes Fahrt aufgenommen. Wer etwas Recherche betreibt, stösst auf Informationen von Forschern, die sagen, dass die gesamte Struktur, zu der der Berghang gehört, vermutlich seit dem Ende der letzten Eiszeit
vor mehr als 10 000 Jahren in Bewegung ist. Nordöstlich von Brienz gab es zum Beispiel 1872 einen grösseren Felssturz, der sogar namentlich auf der Landeskarte mit «Igl-Rutsch» eingezeichnet ist. Während die aktuelle Rutschung über viele Jahrzehnte nur wenige Zentimeter pro Jahr betrug, hat sie sich in den letzten rund 20 Jahren stark beschleunigt. Mitte 2024 bewegte sich das Messhäuschen bei der Brienzer Kirche 2.45 Meter pro Jahr. Das war so schnell wie noch nie seit Messbeginn. Aktuell ist die Geschwindigkeit auf 1.2 Meter pro Jahr zurückgegangen. Ob das jetzt am Sondier- bzw. Entwässerungsstollen oder am trockenen Winter 2024 / 2025 liegt, lässt sich im Moment nicht sagen. «Seit 2017 ist Brienz in der roten Zone und 2019 ging es mit dem Rutschen so richtig los», erzählt Annette Bonifazi bei einer Tasse Kaffee in ihrem temporären Zuhause. Es handelt sich dabei um eine Wohnung des Plantahofs. «Wir sind dem Plantahof sehr dankbar für die ganze Unterstützung. Ohne ihre Hilfe hätten wir vor allem auch die Evakuierung der Tiere in dieser kurzen Zeit nicht geschafft», sagt Georgin nachdenklich.
Der «Fall» Brienz dauert an
Was ich an Georgin und Annette Bonifazi sowie ihren Kindern Andri, Ursin, Niculin und Ladina so bewundere, ist, dass sie sich selbst in den schwierigsten Momenten ihres Lebens gegenüber den Medien und somit der Öffentlichkeit nicht verschlossen haben. Dabei ist das «Rampenlicht» so ganz und gar nicht ihre Welt. Viel lieber bewegen sie sich in der Stille der Natur und weit weg vom Rummel auf ihren Wiesen, in ihrem Garten oder ihrem schönen Haus, das sie 2017 neu gebaut haben. Georgin hält aber fest: «Das Schweizer Fernsehen ist uns mit viel Respekt begegnet und hat auch demensprechend berichtet.» Während einigen Wochen beherrschte der «Fall» Brienz denn auch die Medien. Was bei der breiten Bevölkerung jedoch schnell wieder in Vergessenheit geraten ist, ist für verschiedene Personen omnipräsent. Dazu zählen nebst den Bewohnerinnen und Bewohnern von Brienz auch die Gemeinde Albula / Alvra, zu der Brienz seit der Fusion 2015 gehört, der Kanton und zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Geologen, die den Hang ununterbrochen beobachten. Und das nicht erst seit Mai 2023, als die erste Evakuation stattfand. Das Dorf Brienz rutscht wie bereits erwähnt seit Jahrzehnten Richtung Tal und der «bröckelnde» Piz Linard gehört für die Einheimischen zur Geräuschkulisse wie für andere das quietschende Tram vor der Haustüre. «Für uns ist das normal. Angst hatte ich nie», hält Georgin fest. Auch die 17-jährige Ladina, die zwischenzeitlich zu Hause eingetroffen ist, hatte nie Angst vor dem Berg. Sie, die in Davos eine Lehre als
Drogistin macht und aktuell eine viel grössere Anreise durchs Prättigau auf sich nehmen muss. Während der ersten Evakuation, die rund sieben Wochen dauerte, hat die Familie bei Annettes Mutter in Lenzerheide gewohnt, während die Tiere in der Bündner Arena in Cazis eingestallt und betreut wurden. Die zweite Evakuation, die nach wie vor andauert, fand am 17. November 2024 statt und betraf 91 Bewohnerinnen und Bewohner mit ihren Haus- und Nutztieren. Was die Tiere angeht, waren das bei Familie Bonifazi rund 30 Mutterkühe mit Kälbern, eine Kamerun-Schafherde, zig Zwerghasen, deren Umsiedlung am meisten zu tun gab, eine Hühnergruppe, vier Esel und vier Katzen. Anlässlich meines Besuchs befinden sie sich alle – mit Ausnahme der Katzen, die sich aktuell in der Wohnung aufhalten – auf dem Gut von Schloss Marschlins in Landquart. Andreas Gabathuler, seit kurzem auch Mitglied bei Mutterkuh Schweiz, hat ihnen den Stall und die Weiden kurzerhand zur Verfügung gestellt. Familie Bonifazi ist ihm und vielen anderen sehr dankbar. «Es gibt so viele gute Menschen, die uns helfen. Es bereitet uns aber Sorgen, dass wir immer auf den guten Willen von anderen angewiesen sind. Niemals können wir all das, was wir hier an Hilfe und Unterstützung erhalten, in diesem Umfang zurückgeben», erklärt Georgin während unseres Besuchs auf dem Hofgelände. Ihn und die ganze Familie plagt das Heimweh. Das Heimweh nach den eigenen vier Wänden, nach dem eigenen Land, nach dem gewohnten Bergblick Richtung Bergün, Heimweh nach ihrem eigenen, selbstbestimmten Leben. Diese Worte fahren mir ein. Wie wäre es, wenn mir jemand sagen würde, schau – jetzt verlässt du dein Zuhause, dein aktuelles Leben. Unvorstellbar. Für Familie Bonifazi ist das die Realität. Sie, die mit Ursin und Andri zwei Söhne haben, die den Landwirtschaftsbetrieb in fünfter Generation gerne weiterführen würden. Ein schöner Betrieb mit 30 Hektaren eigenem und 10 Hektaren Pacht-Land.
Heimweh nach Brienz
Georgin zeigt mir die Mutterkuhherde inklusive Angusstier, die auf einer idyllischen Weide friedlich grast. In unmittelbarer Nähe des Stalls befindet sich die Schafherde, die sich so richtig wohl fühlt. Die putzigen Lämmer bringen uns zum Lachen. Sie springen umher, spielen miteinander und holen sich zwischendurch wieder eine Portion Milch bei der Mutter – Lebensfreude pur. «Den Tieren geht es so gut hier und dafür sind wir unendlich dankbar», freut sich der Brienzer. Etwas später lerne ich noch Andri kennen, der nach Feierabend seine Hasen und die Hühner betreut. Der gelernte Geomatiker, der nach der BMS und einem einjährigen Praktikum auf einem Bio-Hof in Worb / BE ein Agronomie-Studium an der HAFL absolvierte, arbeitet beim Plantahof als Werkführer Feldbau. Auch er hat Heimweh nach Brienz. Der 28-Jährige lebt zwar seit längerem auf dem Plantahof, hat
aber jede freie Minute auf dem elterlichen Hof und bei seinen Zwerghasen sowie seinen Pflanzen und Sträuchern verbracht. Wenn er nicht da war, hat sich Annette um seine Tiere gekümmert. Auch sie hatte ein intensives und ausgefülltes Leben in Brienz. Mit dem Garten und dem Hoflädeli hat sie viel zum Einkommen der Familie beigetragen. Weitere finanzielle Quellen, die jetzt versiegt sind, waren die Einnahme für die Mietwohnung und die Hausabwartsarbeiten für 16 Wohnungen und verschiedene Ferienhäuser. Ursin und Niculin lerne ich zwar nicht persönlich kennen, aber von ihren Eltern erfahre ich einiges über sie. Ursin ist 27 Jahre alt und gelernter Landwirt. Er arbeitet bei der Gemeine Albula / Alvra und ist für den allgemeinen Werkdienst zuständig und wohnt bei seiner Grossmutter in Lenzerheide. Seine Vertiefungsarbeit am Plantahof hat er über die Rutschungen in Brienz verfasst. Auch er verbrachte und verbringt – sofern möglich – jede freie Minute auf dem Hof in Brienz. Mit Georgin teilt er seine Leidenschaft für die Jagd und als Imker betreut er seine Bienenvölker, die feinen Bergblütenhonig produzieren. Die Etiketten für die Honiggläser gestaltet der 25-jährige Niculin. «Niculin ist der Künstler in unserer Familie», schmunzelt Annette. Er wohnt mit den Eltern und Ladina in der Wohnung auf dem Plantahof und arbeitet als Hochbauzeichner in Chur. Nebst dem Malen spielt er auch leidenschaftlich Klavier. Für Action sorgt die «kleine» Schwester. Sie liebt das Leben, trifft sich mit Freundinnen und Freunden und sprüht vor Lebenslust. Aber auch sie wäre lieber in Brienz. Die Bonifazis – so verschiedenen sie alle sind – so stark sind sie als Familie und geben sich gegenseitig Kraft in dieser schwierigen Zeit.
Das Dorf entvölkert sich
Am späteren Nachmittag erhält Georgin ein SMS vom Frühwarndienst. Dieser teilt den betroffenen Landwirten aus Brienz – insgesamt zwölf, wovon nur zwei (beide Mitglied bei Mutterkuh Schweiz) im Dorf selbst wohnen – täglich mit, ob sie und falls ja in welcher Gefahrenzone am kommenden Tag ihre Wiesen und Weiden bewirtschaften dürfen. Georgin und Annette fahren so oft als möglich hoch, was eine Fahrt von rund 140 Kilometern bedeutet. Für die Bonifazis war es ein wunderbares Gefühl, als sie nach all den Wochen und Monaten Ende März 2025 wieder gemeinsam den eigenen Grund und Boden betreten und bearbeiten durften. Die Wiesen und Weiden präsentieren sich zwar mit vielen Rissen, Spalten und Löchern, aber die Familie scheut keine Mühe, ihr Land zu bearbeiten. Das Haus betreten durften sie zum Zeitpunkt meines Besuchs Mitte April nur dann, wenn es allen Bewohnerinnen und Bewohnern offiziell erlaubt wurde. «Brienz ist zu einem Geisterdorf geworden», meint Annette nachdenklich. Wenn sie in ihrem geliebten Garten mit den Händen in der Erde wühlt, ist sie glücklich, aber der Schwatz mit den Nachbarn, das Kuhglockengeläut, das Lachen der jüngeren Nachbarskinder – all das fehlt. «Anfangs Januar hat die Gemeinde ein Treffen ausserhalb des Dorfes für die Bewohnerinnen und Bewohner organisiert. Das war sehr schön. Aber es ist schwierig, den Kontakt zu halten», sinniert Georgin.
Im Februar durfte die Bevölkerung erstmals für zwei Stunden und nur zu zweit pro Haushalt nach Brienz in ihre Häuser zurückkehren. Seither sind noch ein paar weitere Besuchsfenster dazu gekommen und seit dem 5. Mai 2025 dürfen die Bewohnerinnen und Bewohner – sofern es die Situation zulässt – täglich von 9 bis 19 Uhr ins Dorf zurückkehren. Annette und Georgin trifft es jedes Mal hart, wenn ein Umzugswagen vor einem Haus steht. Wer hier eine Mietwohnung hat, sieht sich nach etwas Neuem um. Der Familie Bonifazi tut es weh zuzuschauen, wie das Dorf im wahrsten Sinne des Wortes auseinanderfällt und sich entvölkert.
Eine Umsiedlung wird Realität
Für die Gemeinde Albula / Alvra, allen voran den Gemeindepräsidenten Daniel Albertin (ebenfalls Mitglied bei Mutterkuh Schweiz), stellt die Situation in Brienz seit Jahren eine grosse Herausforderung dar. Was die Zukunft des Dorfes angeht, steht mittlerweile auch eine Umsiedlung im Raum. Die letzte öffentliche Information fand am 1. Mai 2025 statt. Da die Expertinnen und Experten wiederholte Evakuierungen in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht ausschliessen können, stellt sich gemäss Albertin die Frage, inwiefern das den Bewohnerinnen und Bewohnern noch zugemutet werden kann.
Im Sinne einer Dienstleistung hat die Gemeinde drei neue Bauzonen in Vazerol, Alvaneu und Tiefenkastel gesucht. Wenn es nicht zu viele Einsprachen geben wird, rechnet Gemeindepräsident Albertin, 2027 / 2028 mit dem Projekt starten zu können. Wer bereits heute auf bestehendes Bauland zurückgreifen möchte, kann sofort loslegen. Dies dank einem Darlehen, das der Kanton Graubünden der Gemeinde gewährt. So kann die Gemeinde die Hausbesitzenden mit einer Vorfinanzierung von 90 Prozent für etwas Gleichwertiges
unterstützen, noch bevor das alte Wohneigentum in Brienz abgebrochen ist. Was die Landwirtschaftsbetriebe angeht, ist das Ziel, diese ausserhalb der Gefahrenzone neu zu erstellen. Das heisst Haus und Stall in der Nähe, aber in Sicherheit, neu zu bauen. So, dass das Land in der Gefahrenzone weiterhin bewirtschaftet werden kann. «Auf der Suche nach einer geeigneten Parzelle mussten wir einige Enttäuschungen erleben», zeigt sich Georgin nachdenklich. «Langsam gehen uns die Ideen aus.» Für die Familie ist der Gedanke an eine Umsiedelung mit vielen Emotionen verbunden. Das Haus, das sie 2017 auf dem Land des alten Stalls gebaut haben, ist noch in einem top Zustand. Anders sieht es beim Stall aus, der 2001 anlässlich der Umstellung auf die Mutterkuhhaltung erstellt wurde. Damals ging man nur von einer Rutschrichtung Richtung Tal aus und so wurde der geräumige Grossviehstall mit Sollbruchstellen dreigeteilt. Dem ist leider nicht so und so weist das Gebäude massive Schäden auf.
Für Familie Bonifazi ist es ein Dilemma, das Ursin Bonifazi 2017 in einem Artikel in der BauernZeitung wie folgt formuliert hat: «Eigentlich müsste man mit Sack und Pack wegziehen von hier. Aber alles, was wir haben, ist hier.» Zum Glück geht es den Tieren gut. Die Schafherde und die vier Esel befinden sich seit Ende April auf einer Weide in Brienz und die Kühe ziehen im Sommer wie gewohnt auf die Alp Radons bei Savognin. Schwieriger ist und bleibt es für die Menschen des Bio-Betriebs. Ihr Leben ist nach wie vor geprägt von der Sehnsucht nach dem alten Leben.